Wie kam ein kommunistischer Parteiführer, der unter Mussolini im Gefängnis saß, dazu sich mit Immanuel Kant, einem der wichtigsten deutschen „idealistischen“ Philosophen, zu beschäftigen? Gramsci untersuchte in seinen Gefängnisheften einen Gedanken von Hegel, der darauf hingewiesen hatte, dass Kant (1724-1804) den Forderungen der französischen Revolutionäre – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – eine philosophische Form gegeben habe. Marx hatte 1842 geschrieben, dass Kants Philosophie mit Recht als „deutsche Theorie der französischen Revolution“ betrachtet werden muss. Kant ist eher für schwergängige philosophische Konstruktionen wie das Ding-an-sich und den kategorischen Imperativ bekannt. In seinen „Gefängnisheften“ ging Gramsci einer Spur nach, die dem gesamten Marxismus-Leninismus, besser der stalinistischen Philosophie zuwiderläuft. Er begriff Marx‘ Philosophie als eine Reform, als eine Umarbeitung des Hegelianismus. Hegel ist aber ohne seinen großen Vorläufer Kant nicht denkbar. Infolgedessen sah Gramsci in Kants Philosophie den ersten Jahresring einer neuen Philosophie, das heißt als den Beginn der philosophischen Entwicklungslinie Kant-Hegel-Marx. Gramsci erkannte in Kant den Theoretiker jener Staatsform, die im Zuge der französischen Revolution zum ersten Mal entstand und heute die globale Staatenwelt prägt: Die demokratische Republik mit politischer Freiheit und allgemeinem Wahlrecht.
Warum ist eine Beschäftigung mit Kant und den Grundlagen der demokratischen Republik heute wichtig? Weil das letzte Jahrzehnt einen dramatischen Kampf um die demokratische Republik zeigt, der in zwei gegenläufigen Bewegungen zum Ausdruck kommt.
Im Laufe des letzten Jahrzehnts sind in verschiedenen Nationen politische Kräfte ins Amt von demokratischen Staaten gewählt worden, die die Demokratie von innen heraus gefährden: Orban 2010 in Ungarn, Erdogan 2014 in der Türkei, Modi 2014 in Indien, Donald Trump 2016 in den USA, Bolsonaro 2018 in Brasilien. Alle 5 Politiker betreiben nach außen eine nationalistische, gegen die internationale Kooperation gerichtete Politik und nach innen eine Aushöhlung demokratischer Errungenschaften in ihren jeweiligen Nationen. Hinzu kommt, dass Orban, Modi und der inzwischen abgewählte Trump gegen Flüchtlinge hetzen und mit restriktiven Maßnahmen gegen Menschen in Not vorgingen. Trump und Bolzonaro leugnen die Klimakrise wie auch die Gefährdung durch die Covid-19-Pandemie. Alle 5 Regierungschefs stützen sich maßgeblich auf gewisse religiöse Milieus in ihren Ländern. Ein Übergang zu faschistischen Formen der Herrschaft kann nicht ausgeschlossen werden. Im Februar 2021 fand in Myanmar ein Militärputsch statt. Der Putsch diente dem Zweck, das Ergebnis der Wahlen vom November 2020 zu annullieren. Die Vertreter des Militärs hatten bei diesen Wahlen sehr schlecht abgeschnitten. Der Putsch, die blutige Unterdrückung der Opposition, aber auch die vorangehende Verfolgung und Vertreibung der muslimischen Minderheit der Rohingya zeigen, wie fragil der Prozess der Demokratisierung sein kann.
Die gegenläufige Bewegung begann 2011 mit dem arabischen Frühling. Leider misslang der Versuch in den arabischen Staaten Demokratie und politische Freiheit durchzusetzen bis auf die Ausnahme Tunesien. Aber auch nach dem arabischen Frühling verging fast kein Monat, in dem nicht in irgendeiner Nation auf der Welt Hunderttausende gegen ein repressives Regime protestierten und eine demokratische Republik forderten. In den vergangenen 12 Monaten fanden diese Proteste, in denen ein „regime change“ gefordert wurde, vor allem im Sudan, in Hongkong, im Libanon, in Weißrussland und in Thailand statt. Hinzu kamen die Black Lives Matter-Demonstrationen in den USA und weltweit, die im Kern ebenfalls eine demokratische Republik fordern und zwar eine, in der es keinen strukturellen Rassismus mehr gibt.
Kants vernunftrechtliche Variante der Aufklärung ist einzigartig in der Geschichte der Philosophie. Sie ist auch heute noch deshalb so relevant, weil sie ohne religiöse und naturrechtliche Zusätze die Notwendigkeit der demokratischen Republik mit der Vernunft aller Menschen begründete. Seine Erkenntnistheorie, seine Ethik und seine Geschichtsphilosophie stützen sich auf eine zentrale Fähigkeit die allen Menschen gemein ist: Auf die Fähigkeit zum Gebrauch der Vernunft. Die Vernunft bildet nach Kant und in seiner Folge auch bei Hegel den kreativen Kern unserer geistigen Aktivität, unserer Gedankenwelt, in der die Ideen entstehen. Sie ermöglichst uns, unser bisheriges Denken zu überschreiten, neue Zwecke, Ziele, Verhältnisse zu denken und Mittel für ihre Realisierung zu erfinden. Sie kommt in den modernen bürgerlichen Wissenschaften, in der politischen Selbstbestimmung in der demokratischen Republik und in unserem Alltagsleben, in unserem Denken und in unserer Sprache zum Ausdruck.
Gramsci ließ in den „Gefängnisheften“ den 300-jährigen Kampf der modernen Wissenschaften gegen die Dogmen der katholischen Kirche in der italienischen Renaissance beginnen. Die Wissenschaftler in der Renaissance begannen insbesondere das wissenschaftliche Weltbild der römisch-katholischen Kirche in Frage zu stellen, in dem sich die Sonne um die Erde dreht. Kant, selbst Wissenschaftler im Bereich der Kosmologie, stand am Ende dieser Entwicklung. Er widerlegte alle damals gängigen Beweise der Existenz Gottes und entwarf eine Erkenntnistheorie, die auf der Vernunft und der Lehre vom Begriff aufbaute. Auf die Wissenschaften – besser: auf den weltweit in den Wissenschaften erarbeiteten Konsens – müssen wir uns in Zeiten der Corona-Pandemie und der globalen Klimakrise mehr denn je stützen.
Kants Theorie der demokratischen Republik beruht auf einer zentralen Voraussetzung: Die Bürger der Republik müssen sich wechselseitig als vernünftige Wesen anerkennen. Vernunft ist nötig, um Gesetze in der demokratischen Republik zu entwerfen, die ein Sein-Sollen regeln. Diese Gesetze legen die gesellschaftlichen Normen und Verhältnisse in die Zukunft hinein fest. Beim Zustandekommen der Gesetze müssen alle Vorstellungen und Meinungen in einer freien Debatte gehört werden und jede/r nimmt mit einer Stimme am demokratischen Prozess teil. Die Menschheit soll, so Kant, unter selbstgemachten Gesetzen leben. Mehr zu diesem Thema und zum ethischen Kern der demokratischen Republik – dem kategorischen Imperativ – im Buch „Gramscis Plan – Kant und die Aufklärung“. Kant verteidigte die 1. Französische Republik von 1792 bis 1794, weil sie den von ihm entworfenen Prinzipien entsprach. 50 Jahre später bezeichnete Marx die Demokratie als das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen. In Gramscis „Gefängnisheften“ wird Kants „deutsche Theorie der französischen Revolution“ (Marx) zur Grundlage seiner Theorie der bürgerlichen Hegemonie in den modernen aufgeklärten Gesellschaften. Kants philosophische Begründung der demokratischen Republik ist auch heute noch am besten geeignet, die 1789 vor der französischen Nationalversammlung ausgerufenen Bürger- und Menschenrechte zu begründen, der Gesellschaft eine Form der politischen Entwicklung zu ermöglichen, in der jede/r eine Stimme hat und in der der Dissens dauerhaft als Prinzip der Erkenntnis verankert ist.
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