Nach dem Tod von Marx 1882 und von Engels 1896 wurde schnell deutlich, dass die Versuche von Engels, die Grundlagen der Marxschen Philosophie in verschiedenen Schriften ab 1878 zu erklären, nicht hinreichend gewesen waren. Alle wichtigen Themen der Philosophie waren unter den Nachfolgern strittig. Dies galt insbesondere für die Erkenntnistheorie – Welche Erkenntnistheorie hatte Marx vertreten und angewendet? -, die Geschichtsphilosophie – Welche Kräfte wirken in der menschlichen Geschichte? Wie und wodurch kommt es zu einem Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft? – und die Ethik – Kommt der Übergang zum Sozialismus durch einen freien Willen der Menschen zu Stande oder ist er ein zwangsläufiges Ereignis, das diesen Willen nicht erfordert? Unstrittig war nur, dass Engels in der Gegenüberstellung von Idealismus und Materialismus Marx eindeutig auf die Seite eines philosophischen Materialismus gestellt hatte. Diesen vermeintlichen Marxschen Materialismus hatte Engels dann noch von dem Materialismus des deutschen Philosophen Feuerbach abgegrenzt. Zur Klarstellung dieser Positionierung hatte Engels in seinem letzten großen philosophischen Artikel die 11 Thesen über Feuerbach beigelegt, in denen Marx den Materialismus von Feuerbach kritisiert. [1] Die Stellungnahme von Engels und das beigelegte Fragment von Marx beantworteten aber nicht die aufgeworfenen Fragen; die Verwirrung und die Suche nach geeigneten philosophischen Antworten hielt an.
Zur ersten Generation der Nachfolger von Marx und Engels gehörten in Deutschland die sozialdemokratischen Führungspersonen Karl Kautsky (1854-1938) und Franz Mehring (1846-1919), in Russland Georgi Plechanow (1856-1918) und in Italien Antonio Labriola (1843-1904); diese hatten noch unmittelbar Kontakt mit Marx und Engels und bemühten sich zum Teil in langen Briefwechseln mit Engels um eine Klärung der wichtigsten philosophischen Fragen. Die erste Generation stellte in je spezifischer Weise die Weichen für die nachfolgende.
Zu dieser zweiten Generation zählten in Deutschland Rosa Luxemburg (1871-1919), in Russland Lenin (1870-1924) und in Italien Benedetto Croce (1866-1952); letzterer entschied sich aber bereits in den 90iger des 19. Jahrhunderts für einen sozialliberalen Weg. Zu der darauffolgenden dritten Generation gehörte in Italien Antonio Gramsci (1891-1937), der sich in den Gefängnisheften intensiv mit der Philosophie und dem Reformismus Croces auseinandersetzen wird. In Deutschland zählte zu der dritten Generation nach Marx der links- oder auch rätekommunistische Politiker Karl Korsch (1886–1961), der in einem interessanten Gesamtwerk einen ganz eigenen Zugang zur marxistischen Philosophie suchte. Auf Grund der Bedeutung und des Umfangs seines Werks fällt Karl Korsch aus der weiteren Betrachtung heraus. In Russland gehörte Nikolai Bucharin zur dritten Generation. Bucharin (1888-1938), ein Mitglied der illegalen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (Bolschewiki) seit 1906, schrieb eine Reihe von theoretisch bedeutsamen Werken und bekleidete in den 20er Jahren führende Posten in der Partei-und Staatsführung der Sowjetunion. Er gehört vielleicht zu den traurigsten Gestalten der russischen Revolution, weil er bis zum Schluss nicht weiß, warum ihn Stalins Henker 1938 umbringen werden.
Zu Beginn der Phase revolutionärer Erhebungen – in den Jahren 1917 bis 1918 – waren Lenin und Rosa Luxemburg als Vertreter der zweiten Generation nach Marx bereits bedeutende Politikern in ihren Nationen. Lenin kam 1917 als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR (Bolschewiki)) aus dem Schweizer Exil nach Russland zurück und verkündete sofort seine April-Thesen, in denen er „Alle macht den Sowjets“ forderte; Rosa Luxemburg kam erst am 8. November 1918 aus dem Gefängnis frei und schrieb das Parteiprogramm der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die am 1. Januar 1919 gegründet wurde. Antonio Gramsci war 1917 erst 26 Jahre alt und gehörte im Unterschied zu den eben Genannten zur dritten Generation. Ein Ereignis, das sich in jenen Jahren in vielen Städten Europas in ähnlicher Form zutrug, schleuderte Gramsci in eine regional begrenzte Führungsposition. Im August 1917 brach in Turin ein Aufstand gegen den Krieg und die wirtschaftlichen Folgen des Krieges aus. Bei der Niederschlagung dieses Aufstands wurden über 50 Menschen getötet und im Nachgang praktisch alle Führer der Sozialistischen Partei Italiens (PSI) verhaftet. Infolge dieser Umstände wurde Gramsci der Parteisekretär der Turiner Sektion der PSI. Lenin, Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci waren alle drei Vorsitzende der Kommunistischen Partei in ihrem jeweiligen Land. Lenin hatte diese Position bei den russischen Bolschewiki schon länger inne; Rosa Luxemburg wurde dazu auf dem Gründungsparteitag der KPD gewählt und Gramsci wurde dazu 1924 von der Kommunistischen Internationale ernannt und 1926 auch in dieses Amt hinein gewählt. Die Funktion des bzw. der Parteivorsitzenden unterstreicht in formaler Hinsicht ihre inhaltliche Bedeutung. Alle drei waren nicht nur praktische Politiker, sondern werden dauerhaft und unstrittig bis heute für die wichtigsten marxistischen Theoretiker in ihren Nationen gehalten. Auf Grund der Bedeutung ihres Schaffens bringen alle drei eine Schule, eine intellektuelle Strömung innerhalb des Marxismus hervor: den Leninismus, den Luxemburgismus und den Gramscianismus. Wie vorangehend angemerkt können allerdings die letztgenannten beiden Schulen in keiner Weise mit der geschichtlichen Bedeutung des „Marxismus-Leninismus“ der Sowjetunion mithalten. Neben ein paar Informationen über den persönlichen Lebensweg von Lenin, Rosa und Gramsci soll im Folgenden eine erste Vorstellung von ihrem praktischen und theoretischen Lebenswerk vermittelt werden. Damit soll vor allem die besondere Stellung Gramscis in der Philosophie und im Vergleich zu Lenin und Rosa Luxemburg begründet werden.
Wodurch unterscheidet sich die Geschichte Italiens im 19. Jahrhundert von der Geschichte Russlands und Deutschlands? Die bürgerlich-demokratische Nationalbewegung in Italien kämpfte über 40 Jahre hinweg zwischen 1830 und 1870 gegen feudalen Mächten aus Österreich und Spanien, den Papst in Rom wie auch den französischen Kaiser Napoleon III., um die Einheit und Unabhängigkeit Italiens durchzusetzen. Diese jahrzehntelangen Kämpfe brachten republikanische Führer wie Mazzini und Garibaldi hervor; politische Führer, die im italienischen Volk hohe Achtung genossen und in der Lage waren einen militärischen Kampf um die Befreiung zu führen. Währenddessen wurde die Macht der feudalen Klassen und ihrer Staaten in Deutschland und Russland in der zweiten Hälfte 19. Jahrhunderts nicht einmal herausgefordert wird. Italiens Weg zum modernen Nationalstaat, das Risorgimento endete mit einem Kompromiss zwischen Monarchie und Republik im Jahr 1861, mit einer konstitutionellen Monarchie.
Dieser ganz eigene italienische Weg bedingt auch die Entwicklung der Philosophie in Italien. Bemerkenswert ist die Hinwendung der italienischen Nationalbewegung zur klassischen deutschen Philosophie. Darin kommt der Versuch zum Ausdruck sich wirksame Argumente im Kampf gegen den katholischen Papst und für die Rechtfertigung einer weltlichen Autorität zu schaffen. Die deutsche idealistische Philosophie kam hauptsächlich über den von Hegel inspirierten Philosophen Spaventa (1817-1883) nach Italien. Spaventa war der Gründer des Hegelianismus in Neapel und betätigte sich auch praktisch als Abgeordneter im italienischen Parlament zwischen 1867 und 1876. Aus der neapolitanischen Schule des Hegelianismus ging der erste Marxist Italiens hervor, der auch international einige Bedeutung erlangte: Antonio Labriola (1843-1904). [2] Der italienische Philosophieprofessor Antonio Labriola war ein ausgezeichneter Kenner sowohl von Kant als auch von Hegel und wandte sich ab 1890 dem historischen Materialismus von Marx und Engels zu; er wurde zu einem der wichtigen Repräsentanten des philosophischen Sonderwegs Italiens und kann als einer der wichtigen Vermittler zwischen der Philosophie von Karl Marx und der von Antonio Gramsci angesehen werden. Labriola entwickelte eine eigenständige Interpretation des philosophischen Werks von Marx, die sich von der in Deutschland durch Kautsky und in Russland durch Plechanow vertretenen deutlich unterschied. Seiner Interpretation gab er den Namen Philosophie der Praxis, die für ihn den Kern des historischen Materialismus, also der geschichtsphilosophischen Anschauungen von Marx hielt. [3] Labriola behauptete, dass die Philosophie der Praxis unabhängig von jeder anderen philosophischen Strömung sei und eine ganz eigene Vereinigung philosophischer Auffassungen darstelle. [4] Praxis bedeutet bei Labriola menschliche Praxis, die er als eine Geschichte der Arbeit auffasste. Die Geschichte der Arbeit im Sinne Labriolas umfasst auch die Entfaltung der geistigen Potenzen des Menschen, untersucht die gesellschaftlichen Formen der Arbeit und den Wechsel dieser Form in den geschichtlichen Epochen. Diese Auffassung kombinierte er mit einer scharfen Absage an alle Formen des politischen und sozialen Darwinismus. Labriola war einer der Gründungsväter der Sozialistischen Partei Italiens, die 1892 begründet wurde und die ab 1896 die Zeitschrift Avanti! (Vorwärts!) herausgab.
Einer der Schüler von Professor Labriola war Benedetto Croce (1866-1952). Croce war ursprünglich über Marx und Labriola zu Hegel gekommen. Um die Jahrhundertwende herum wandte er sich aber vom Marxismus ab und wurde zu dem liberalen Philosophen Italiens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Um die internationale Bedeutung von Croce zu unterstreichen, stellt Gramsci in den Gefängnisheften fest, dass die Weiterentwicklung der Philosophie Hegels durch Croce „den heutigen Weltmoment der klassischen deutschen Philosophie repräsentiert.“ [5] Diese Aussage bedeutet, dass die lebendige Fortentwicklung der idealistischen Philosophie nicht in Deutschland, sondern vermittelt über Labriola und Croce in Italien stattgefunden hat. [6] Und in der Tat fällt es schwer in Deutschland, Russland oder im übrigen Europa in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts philosophische Denker zu finden, die sich auf Kant und Hegel bezogen haben und vergleichbar mit der Stellung Croces in der Geschichte der Philosophie gewesen wären. In den Gefängnisheften wird Croce deshalb einem wichtigen intellektuellen Kontrahenten von Gramsci. Dies unterstreicht er durch die Behauptung, dass ein gegen Croce gerichtetes Werk – ein Anti-Croce – notwendig sei. Der Terminus Anti-Croce verweist auf das Buch von Friedrich Engels gegen den deutschen Philosophen Dühring, den Anti-Dühring.[7]
Der erste und gravierendste Unterschied zwischen der geschichtlichen Entwicklung in Italien auf der einen und in Deutschland und Russland auf der anderen Seite Italien besteht in der Lebendigkeit der klassischen deutschen Philosophie in der Kultur und der Philosophie Italiens. Dieser Umstand schlägt sich in Gramscis intellektueller Formierung als ein maßgeblicher Unterschied speziell im Vergleich zu Lenin nieder. Der zweite Unterschied, der Gramsci prägte, besteht in der Existenz einer legalen und kämpferischen Arbeiterbewegung und einer sozialistischen Partei, die gegen koloniale Eroberungen und eine Beteiligung am 1. Weltkrieg eintraten. Die Sozialistische Partei Italiens (Partito Socialista Italiano, PSI) trennte sich 1912 von einem reformistischen Flügel und 1914 von den nationalistischen Kriegsbefürwortern um Mussolini. In den Jahren 1917 bis 1921 weist die politische Entwicklung in Italien einen dritten Unterschied zu Deutschland und Russland auf, der in der vorangehenden Geschichte dieser Nation begründet ist und Gramsci Praxis in jenen Jahren grundlegend bestimmen sollte. Es gab in diesen Jahren in Italien zu keinem Zeitpunkt politische Arbeiter- oder Soldatenräte oder andere mit den russischen Sowjets oder den deutschen Arbeiter- und Soldatenräten vergleichbare Organisationen, die der italienischen Monarchie die Forderung nach einer Räterepublik entgegenstellten. Es fand in Italien keine politische Revolution statt, die den Verfassungskompromiss von 1861 in Frage gestellt hätte. Die politischen Institutionen und auch die darin enthaltenen feudalen Züge blieben erhalten. Die Sozialistische Partei Italiens erhielt 1919 unter diesen politischen Rahmenbedingungen und den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts als konsequente Arbeiter- und Anti-Kriegspartei über 30 % der Stimmen. Es gab in Italien in den zwei roten Jahren weder Sowjets oder andere Formen politischer Räte und dementsprechend auch keine Doppelherrschaft. Diese Situation analysierte Gramsci 1919 in einem Artikel mit dem Titel „Ein Sowjet in Turin“. Infolgedessen war Gramsci sich selbst zusammen mit vielen anderen nationalen und internationalen Beobachtern nicht sicher, ob Italien in den Jahren 1919 und 1920 tatsächlich eine revolutionäre Phase durchlief.
Was Italien in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg tatsächlich mit Deutschland und Russland gemein hatte, war das enorme Ausmaß der ökonomischen Krise und der sozialen Verelendung. Dadurch bedingt entstand in Italien eine starke Fabrikrätebewegung mit einem Zentrum in Turin, der Wirkungsstätte von Antonio Gramsci. Fabrikräte sind eine Form der Arbeiterselbstorganisation. Die Belegschaften wählten ihre Vertreter, die Fabrikräte, in einem demokratischen Prozess, um ihre Ansprüche auf Kontrolle und Lenkung der Produktion gegen die Machtstellung der Eigentümer der Produktionsmittel durchzusetzen; sie stellten die Herrschaft des Kapitals in den Fabriken, aber auch in der Gesellschaft insgesamt in Frage. Arbeiter- oder Fabrikräte gab es, wenn auch in unterschiedlichen organisatorischen und juristischen Formen auch in Deutschland und in Russland. Aber in diesen Nationen wurde der Konflikt zwischen Lohnarbeit und Kapital überlagert durch politische Revolutionen, die zum Sturz des Zarismus und des deutschen Kaisers und im Anschluss daran zum Kampf zwischen bürgerlich-demokratischer und sozialistischer Räterepublik führten. Die Arbeiterkontrolle und selbst unabhängige Gewerkschaften wurden in Russland im Verlauf der Revolution durch die Bolschewiki sukzessive ausgeschaltet. In Deutschland wurden die Arbeiterräte durch die Weimar Verfassung legalisiert und in institutionelle Bahnen gelenkt, die von der KPD und anderen radikalen Teilen der Arbeiterklasse abgelehnt wurden. Der Klassenkampf zwischen Lohnarbeit und Kapital spitzte sich in den 2 roten Jahren in Italien ohne die Zutat einer politischen Revolution zu.
Das Schlüsselproblem, das Gramsci im Gefängnis beschäftigte, besteht in einer Arbeiterbewegung, die unter den Bedingungen der bürgerlichen Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht und starker parlamentarischer Präsenz einer sozialistischen Partei nach einem Ausweg aus der ökonomischen und politischen Krise durch den Zugriff auf die Produktionsmittel sucht und diese unter ihre Kontrolle zu bringen versucht. Darin besteht der soziale und politische Gehalt der Situation in Italien, der sich Antonio Gramsci als Funktionär der Sozialistischen Partei in den Jahren 1917 bis 1921 praktisch und später im Gefängnis theoretisch zu stellen hat. Hier liegen die Wurzeln seiner Philosophie der Praxis und seines Begriffs der bürgerlichen Hegemonie, den er aus den Erfahrungen dieser Niederlage entwickelt. In dem Versuch, die Emanzipation der subalternen Klassen unter diesen modernen Bedingungen zu denken, trifft sich Gramsci mit Rosa Luxemburg. Rosa Luxemburg schrieb im Dezember 1918 in ihrer Schrift „Was will der Spartakusbund“, die später mit wenigen Änderungen als Programm der KPD übernommen wurde: „Das Wesen der sozialistischen Gesellschaft besteht darin, dass die große arbeitende Masse aufhört, eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst lebt und in bewusster freier Selbstbestimmung lenkt.“ [8] Die Besonderheit, die Gramscis Denken im Gefängnis im Hinblick auf die Situation in Italien und die bürgerliche Hegemonie ausgezeichnet, ist, dass er sich nicht mit der „fürchterlichen Reaktion der herrschenden Klassen“ – dem italienischen Faschismus ab Oktober 1922 – beschäftigte. Es sei dahingestellt, ob dies an der Zensur im Knast lag. Im Resultat beschäftigt sich Gramsci mit der bürgerlichen Hegemonie unter den Verhältnissen einer modernen parlamentarischen Demokratie. Es ist genau diese Form der Herrschaft, die sich in den 20iger Jahren bereits in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Nationen wie auch in den USA durchgesetzt hatte, und nach dem 2. Weltkrieg gegen Nazi-Deutschland und den italienischen Faschismus ihren eigentlichen weltweiten Siegeszug unter amerikanischer Vorherrschaft antrat.
Nachdem die historischen Voraussetzungen von Gramscis Praxis und seinem Denken im Gefängnis in groben Zügen geklärt sind, kann nun die Person Antonio Gramsci und seine Tätigkeit in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Gramsci wird etwa 20 Jahre nach Lenin und Rosa geboren; 1917 ist er 26 Jahre alt. Gramsci wuchs, nachdem sein Vater auf Grund von Betrugsvorwürfen eine 5-jährige Haftstrafe absitzen musste, in ärmlichen Verhältnissen auf und litt wohl von Kindheit an Knochentuberkulose. Antonio Gramsci begann 1911 ein Studium der Literatur- und Sprachwissenschaft sowie der Philosophie in Turin; 1913 tritt er als Student in die Italienische Sozialistische Partei ein. Zu Zeiten der Oktoberrevolution 1917 in Russland und in den Jahren danach war ein Journalist und Aktivist auf dem linken Flügel der Sozialistischen Partei Italiens, die der 1919 gegründeten Kommunistischen Internationale beitrat.
Das Erbe der klassischen deutschen Philosophie: Der Bezug auf die deutsche und italienische idealistische Philosophie wird nicht erst in Gramscis Gefängnisheften zu einem charakteristischen Merkmal. Einer seiner Biographen schreibt über Gramsci in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg: „ Mit fast missionarischem Eifer versuchte Gramsci, die Aufklärung nachzuvollziehen und ihre Inhalte so zu verändern, dass sie mit den Zielen der proletarischen Revolution in Einklang waren.“ [9] Der unbeholfen tadelnde Unterton, der in dem Ausdruck „mit fast missionarischem Eifer“ steckt, ist überhaupt charakteristisch für die meisten Geschichtsschreiber im Umfeld der Kommunistischen Partei Italiens (PCI). Der spätere Parteivorsitzende und nach dem 2. Weltkrieg gefeierte Freiheitskämpfer und Philosoph sollte vor seinen idealistischen Jugendsünden in Schutz genommen werden. [10]
Eine besondere „Jugendsünde“ beging Gramsci 26-jährig mit einem Artikel, der den Titel „Die Revolution gegen ‘Das Kapital’“ trug und in der Zeitung Avanti! am 24. November 1917 veröffentlicht wurde. Darin heißt es: Die Bolschewiki „leben gemäß dem marxistischen Denken, das niemals stirbt, das eine Fortsetzung des italienischen und deutschen idealistischen Denkens darstellt und das bei Marx durch positivistische und naturalistische Zusätze entweiht wurde.“ [11] Gramsci begrüßt in diesem Artikel voller Überschwang die Oktoberrevolution der Bolschewiki, die wenige Wochen zuvor stattgefunden hatte. Für besonders bemerkenswert hält er, dass diese Revolution in einem Agrarland wie Russland und nicht in einer fortgeschrittenen Industrienation wie Deutschland stattfand. Deshalb erscheint die Oktoberrevolution 1917 für ihn so, als ob die Bolschewiki Marx ignoriert hätten, als ob sie eine Revolution gegen das Hauptwerk von Marx ‘Das Kapital’ gewesen sei. Gramsci kennt offensichtlich nicht die Untersuchungen von Marx zum revolutionären Potential der russische Dorfgemeinde, in denen dieser mit Nachdruck alle schematischen Geschichtsauffassungen zurückweist. [12] Als eine beachtliche Fehlspekulation wird sich die These erweisen, dass die Politik der Bolschewiki mit einer Fortsetzung des italienischen und deutschen idealistischen Denkens identifiziert werden kann. [13] Der Bolschewismus wird vielmehr gestützt auf das offizielle und veröffentlichte Werk Lenins jede Fortsetzung idealistischen Denkens radikal und in mörderischer Weise bekämpfen. Der junge Antonio Gramsci wirft Marx in einer sozialistischen Zeitung die Entweihung des idealistischen Denkens durch „positivistische und naturalistische Zusätze“ zu. Dieses Thema wird später wiederaufgenommen; hier ist nur festzuhalten, dass Gramsci gegen jeden Schematismus in der Betrachtung der menschlichen Geschichte vorgeht, weil diese eben nicht vorhersehbar ist wie etwa die Entwicklung eines physikalischen Systems, das durch bestimmte Gesetze in Verlauf und Ergebnis beschrieben werden kann.
Die Verbindungslinie zwischen der Philosophie der Praxis und dem italienischen und deutschen Idealismus, die Gramsci in seinem Artikel über die russische Oktoberrevolution im Jahr 1917 herstellt, bleibt auch das bestimmende Motiv des späten Gramscis. In den Gefängnisheften finden sich dieser Tradition folgend Sätze, die aufhorchen lassen. Dort wird zum Beispiel Croce mit der Aussage zitiert: Kants Philosophie ist „der erste Jahresring einer neuen Philosophie (…), welche über die Philosophie, die sich in der Französischen Revolution verkörperte, hinausgeht.“(Croce-Zitat aus welchem Buch?) [14] Kant als ein Philosoph, dessen Philosophie den bürgerlichen Horizont der französischen Revolution überschreitet? Das ist ein weitgehend unbekannter Gedanke und der bedeutsamen Metapher von dem „ersten Jahresring einer neuen Philosophie“, mit der die philosophische Entwicklung von Kant zu Hegel und weiter zu Marx gemeint ist, wird nachgegangen werden. Ebenfalls verblüffend ist auch die folgende Aussage, die Gramsci in den Gefängnisheften über Hegel trifft: „Hegel stellt in der Geschichte des philosophischen Denkens stellt einen Sonderfall dar, weil man in seinem System (…) zu verstehen vermag, was Wirklichkeit ist, (…). [15] Hegel, dessen Schriften häufig eine gewisse Unverständlichkeit nachgesagt werden, als ein Philosoph, durch dessen Lektüre man verstehen lernt, was Wirklichkeit ist? Ein ebenfalls weitgehend unbekannter Gedanke, der in der Hegel-Interpretation wieder aufgenommen wird.
Gramsci war in seinem gesamten Schaffen – philosophisch und politisch – darum bemüht, die Marxsche Philosophie in einem bestimmten Sinn als eine Reform, als eine Fortentwicklung des Hegelianismus aufzufassen. [16] Der wesentliche Gedanke, der Gramsci auszeichnet, lautet: „Das Erbe der klassischen deutschen Philosophie darf nicht nur inventarisiert werden, sondern muss wieder wirkendes Leben werden.“ [17] Dieser Leitfaden durchzieht sein gesamtes Werk und es ist die Aufgabe dieses Buches diesen Gedanken als Philosophie und als Praxis anhand der Beantwortung der 4 Kantschen Fragen deutlich werden zu lassen. Gramsci geht mit seinem Leitgedanken über die Aussage des späten Engels hinaus, der in einem Artikel geschrieben hatte: „Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie.“ [18] Die Annahme eines Erbes kann auch in einer passiven Form erfolgen; damit würde der Antritt des Erbes zu einer letztlich folgenlosen Inventarisierung des Erbes werden. Gramsci denkt die Annahme der Erbschaft als einen geschichtlichen Prozess, in dem die vitalen Teile der klassischen deutschen Philosophie von der Arbeiterbewegung und ihren philosophischen Repräsentanten aufgenommen und aktualisiert werden. Der Kern dieses Erbes besteht in der Erkenntnis, dass der Mensch ein vernünftiges, bewusstes und schöpferisch tätiges Wesen ist, das dem Potential nach zur Kontrolle und selbstbestimmte Steuerung seiner politischen und ökonomischen Verhältnisse in der Lage ist. Marx weist im Grund genommen die „nur noch“ die ökonomischen Verhältnisse aus, die den Abruf dieses Potentials geschichtlich notwendig machen. Bei Gramsci erhält dieses Erbe im Anschluss an Marx eine unmittelbar praktische Dimension, die in dem Abschnitt Was soll ich tun? besprochen wird.
Im Mai 1919 nimmt Gramsci in führender Position an der Gründung einer neuen Zeitung für die Turiner Arbeiter teil, in der zur Gründung von Arbeiterräten in den Fabriken Turins aufgerufen wird. Im Titel der Zeitschrift stand „Bildet euch, denn wir brauchen all eure Klugheit. Bewegt euch, denn wir brauchen eure ganze Begeisterung. Organisiert euch, denn wir brauchen eure ganze Kraft.“ Während der zwei roten Jahre in Italien – 1919 und 1920 – unterstützte Gramsci in politisch führender Position die großen Streiks und die Betriebsbesetzungen in Italien. Auf Grund der Erfahrungen mit der Sozialistischen Partei Italiens in diesen Jahren entschied sich Gramsci an der Gründung der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) im Januar 1921 teilzunehmen. Als Theoretiker dieser italienischen Fabrikrätebewegung nahm er 1921 Einfluss auf die Anträge und Beschlüsse zur Einheitsfront auf dem 3. Kongress der Kommunistischen Internationale. Von 1922 bis 1924 hielt sich Gramsci in Moskau in einem Sanatorium auf, um seine Krankheit zu kurieren. Dort traf er auch seine spätere Frau Julia Schucht, mit der er zwei Kinder haben wird. Ab 1922 vertrat Gramsci die Kommunistische Partei Italiens (KPI) im obersten Gremium der Kommunistischen Internationale, dem Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI); 1924 wurde er mit Rückendeckung aus Moskau Vorsitzender der KPI und als Abgeordneter seiner Partei I ins italienische Parlament gewählt. Trotz Immunität wurde Gramsci vom Regime Mussolinis 1926 verhaftet und zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Kurz nach seiner Entlassung -1937 – starb Gramsci an den Folgen des Gefängnisaufenthalts. Staatsanwalt und Gehirn.
Gramsci als Theoretiker der Überbauten und der Niederlagen
Lenin, Rosa Luxemburg und Gramsci waren Parteivorsitzende Kommunistischer Parteien und herausragende Theoretiker in ihren Nationen; alle drei sterben einen frühen Tod. Rosa Luxemburg wird mit 48 Jahren 1919 ermordet. Lenin starb – seit dem Beginn des Jahres 1923 arbeitsunfähig – im Alter von 54 Jahren im Januar 1924 an den Folgen eines Anschlags. Gramsci starb nach mehrjährigem Gefängnisaufenthalt und langer Krankheit im Alter von 46 Jahren 1937. Der politische und philosophische Sonderweg Italiens, der sich deutlich von der Entwicklung in Deutschland und Russland unterscheidet, kombiniert sich in der Person Gramsci mit einem Studium der Literaturwissenschaften und Philosophie, mit einem profunden Wissen über die klassische deutsche Philosophie, mit dem Wille das Erbe der deutschen Philosophie nicht nur zu verwalten sowie mit der Möglichkeit die Erfahrungen der europäischen Revolution 1917 bis 1921 – wenn auch im Gefängnis – zu verarbeiten. Die Gefängnishefte sind sein philosophisches Vermächtnis. In ihnen wird aufbauend auf seinen praktischen Erfahrungen und auf seiner Interpretation von Kant, Hegel und Marx eine Philosophie und eine Praxis jenseits des Stalinismus begründet. Die von Gramsci im Gefängnis entwickelte Philosophie entlang der 4 Kantschen Fragen ist ebenfalls eine Kritik der naturalistischen, deterministischen und fatalistischen Philosophien, die im philosophischen Materialismus Stalins ihre Zusammenfassung und höchste Reife erhielten.
[1] Engels, 1886, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21 Dieser Artikel von Engels wird in „Kapitel 7 Darwin, Haeckel, Engels und die Dialektik 1850 bis 1914“ besprochen.
[2] Piccone, 1983, Italian Marxism, S. 44ff, „The Hegelian Kernel and the Marxist Shell“
[3] Labriola „Über den historischen Materialismus“, Frankfurt/M., 1974, S. 318: „Und damit sind wir wieder bei der Philosophie der Praxis, dem Kernpunkt des historischen Materialismus.“
[4] GH 1492 Labriolas philosophische Fragestellung skizziert Gramsci wie folgt: „In Wirklichkeit ist Labriola mit seiner Aussage, dass die Philosophie der Praxis unabhängig von jeder anderen philosophischen Strömung ist, sich selbst genügt, der einzige, der versucht hat, die Philosophie der Praxis wissenschaftlich zu konstruieren. GH 1053 Croce erkennt „ausdrücklich die von Antonio Labriola aufgestellte Forderung, auf dem Marxismus eine ‘Philosophie der Praxis’ zu errichten, als berechtigt an.“ Anmerkungen Bd. 6 Heft 10 A 556
[5] GH 1248 GH 1075-1080 Mehr zu Croce in GH 862 und 1309 Croce als Anhänger der Philosophie der Praxis vor der Jahrhundertwende, GH797-9, 1243 Croce als Zuarbeiter zum Faschismus, GH 107, 1272 Croce als Erzieher der führenden Klasse, GH 1374 Croce und das Manifest der Intellektuellen, Croce und seine Praxis als Bildungsminister im Widerspruch zu seiner Philosophie
[6] Wichtige Werke von Croce aus der Zeit vor 1917 waren „Historical Materialism and the Economics of Karl Marx” (erneut aufgelegt 1914, eine Artikelsammlung aus den 90iger Jahren des 19. Jahrhunderts) (auch Kritik des Monismus !!), die „Philosophie des Geistes“ (1902),“Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie“ (1907) und „Philosophie der Praxis. Ökonomik und Ethik“ (1908). Croce war von Juni 1920 bis Juli 1921 als liberaler Politiker Minister für das Erziehungswesen und 1925 Initiator eines liberalen Manifests italienischer Intellektueller gegen den Faschismus.
[7] GH 1248 „Eine derartige Arbeit, ein Anti-Croce, der im modernen kulturellen Klima die Bedeutung und Wichtigkeit haben könnte, die der Anti-Dühring für die Generation vor dem Weltkrieg gehabt hat, wäre die Mühe wert, dass ihr eine ganze Gruppe von Menschen zehn Jahre ihrer Tätigkeit widmen würde.“ 1080 1465
[8] Luxemburg, 1918, Was will der Spartakusbund? S. 3 (?). Auf S.4 heißt es weiter: „Alle diese sozialistischen Bürgertugenden zusammen mit Kenntnissen und Befähigungen zur Leitung der sozialistischen Betriebe kann die Arbeitermasse nur durch eigene Betätigung, eigene Erfahrung erwerben.“
[9] Guiseppe Fiori, Das Leben des Antonio Gramsci, S. 95
[10] Das Muster ist auch von Marx her bekannt…
[11] Gramsci, Nov. 1917, Die Revolution gegen ‘Das Kapital’, S.3
[12] Marx, 1877, Brief an die Redaktion der “Otetschestwennyje Sapiski”, MEW 19, S. 107-112
[13] Piccone
[14] GH 1060 GH 1461 „wohingegen der Kant, der die Zukunft auftut, der Kant der Synthesis a priori, der erste Jahresring einer neueren Philosophie ist, welche über die Philosophie, die sich in der französischen Revolution verkörperte, hinausgeht.“
[15] GH 1474, ähnlich GH 510
[16] GH 510
[17] GH 1248 GH 1263 Wie soll man Engels’ Aussage über das Erbe der klassischen deutschen Philosophie verstehen? Soll man es als einen nunmehr geschlossenen Geschichtskreis verstehen, worin die Aufnahme des vitalen Teils des Hegelianismus bereits endgültig abgeschlossen ist, ein für alle Male, oder lässt es sich als ein im Gang befindlicher geschichtlicher Prozess verstehen, durch den eine neue Notwendigkeit philosophisch-kultureller Synthese reproduziert wird.“ Nicht verwenden? GH 888 Die Aussage, dass das deutsche Proletariat der Erbe der klassischen deutschen Philosophie ist: wie muss sie verstanden werden – wollte Marx nicht auf die historische Aufgabe seiner Philosophie hinweisen, die zur Theorie einer Klasse geworden war, die Staat werden wollte?
[18] Engels, Ludwig Feuerbach, S. 307 http://www.mlwerke.de/me/me21/me21_291.htm